Ermittlungsverfahren im französischen Strafrecht
Das französische Ermittlungsverfahren unterscheidet zwischen der enquête de flagrance und der enquête préliminaire. Die enquête de flagrance greift bei Straftaten, deren Ausführung noch nicht begonnen oder gerade erst abgeschlossen hat, und ermächtigt die Polizei, weitreichende Zwangsmittel anzuwenden, u.a. den Tatort aufzusuchen, den Sachverhalt feststellen zu lassen, alle Gegenstände oder Datenträger sicherzustellen, die für die Ermittlungen von Bedeutung sind, die Durchsuchung von Wohnungen von Personen anzuordnen, die möglicherweise an der Straftat beteiligt waren oder die in Besitz von Unterlagen oder Informationen sind, die für die Straftat von Bedeutung sind, Personen zu vernehmen, die Angaben zum Tathergang machen können, oder eine Person, die der Beteiligung an der Straftat verdächtigt wird, in Gewahrsam zu nehmen. In allen anderen Fällen kommt das polizeiliche Ermittlungsverfahren enquête préliminaire zur Anwendung. Sobald die Kriminalpolizei den mutmaßlichen Täter identifiziert hat, wird die Staatsanwaltschaft unterrichtet, die eine Voruntersuchung (instruction) einleitet.
Im Rahmen der gerichtlichen Voruntersuchung sammelt der Untersuchungsrichter (juge d’instruction) be- und entlastende Beweise und ergreift -von Amts wegen oder auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder der Parteien – alle ihm sachdienlich erscheinenden Maßnahmen, wie die Besichtigung des Tatorts, Vernehmungen, Durchsuchungen, usw. Hält der Untersuchungsrichter die Voruntersuchung für abgeschlossen, so teilt er dies gleichzeitig den Parteien und ihren Anwälten mit. Die Staatsanwaltschaft und die Parteien haben dann im Falle der Anklageerhebung eine Frist von einem Monat, andernfalls eine Frist von drei Monaten, um dem Untersuchungsrichter ihre substantiierten Einwände oder Anträge vorzutragen.
Vor der Anklageerhebung
In Frankreich muss – bevor gegen einen Tatverdächtigen Anklage erhoben wird und noch bevor die offiziellen Ermittlungen beginnen – die betroffene Person gemäß Artikel 116 der französischen Strafprozessordnung vom Untersuchungsrichter zu einer ersten Vernehmung (interrogatoire de première comparution) geladen werden.
Im Rahmen der Vernehmung soll der beschuldigten Person Gelegenheit gegeben werden, sich zu den ihr zur Last gelegten Straftaten zu äußern. Diese Anhörung wurde durch das französische Gesetz vom 15. Juni 2000 über die Unschuldsvermutung eingeführt, um zu verhindern, dass die tatverdächtige Person (mis en cause) auf andere Weise erfährt, dass gegen sie ermittelt wird. Sie ist bis dahin weder beschuldigt, noch angeklagt. Es wird zwar vermutet, dass sie eine Straftat begangen haben könnte, es ist aber noch unsicher, ob dies der Fall ist.
Nach dieser ersten Vernehmung im Beisein eines Rechtsanwalts entscheidet der Untersuchungsrichter, ob das Verfahren eingestellt wird, ob die verdächtige Person den Status eines témoin assisté (mutmaßlicher Mitwisser, gegen den die vorliegenden Beweise nicht hinreichend gesichert sind, um eine Anklageerhebung zu rechtfertigen) erhält oder ob ein Ermittlungsverfahren gegen sie als Beschuldigte eingeleitet wird. In der Terminologie des französischen Strafrechts wird dies als „mise en examen“ bezeichnet.
Nach der Entscheidung über die Aufnahme der Ermittlungen gegen die Person als Beschuldigte muss diese über ihre Rechte belehrt werden (Recht auf Bestellung oder Beiordnung eines Verteidigers, Recht zu schweigen usw.). Der Verteidiger erhält Zugang zu den Akten seines Mandanten und muss frei mit ihm kommunizieren können. Er kann ihm mit Zustimmung des Richters bestimmte Auszüge aus den Akten übermitteln.